21.7.08

(Umwelt) Tschernobyl-Gau aktueller denn je

Auch 22 Jahre nach dem GAU strahlt der Reaktor von Tschernoby. SPIEGEL-TV-Reporterin Anna Sadovnikova war in der Todeszone und erinnert alle daran, dass die Gefahren einer Renaissance der Atomtechnologie so gross sind wie eh, allen neuen AKW-Träumen zum Trotz. In der Folge Ausschnitte aus dem Aufsehen erregenden Bericht.

Anfang der achtziger Jahre muss Pripjat ein Traum gewesen sein. "Die Stadt war jung, sauber, umgeben von Wäldern und wunderschöner Natur", erinnert sich Ingenieurin Larissa Lebedewa. "Wir waren gut bezahlte Spezialisten mit hervorragenden beruflichen Perspektiven. Alles schien möglich. Und dann brach alles zusammen." In der Nacht des 26. April 1986 verlor Larissa Lebedewa ihren Glauben an die glorreiche Zukunft der Sowjet-Technologie. Die Atomphysikerin arbeitete damals im Kernkraftwerk Tschernobyl, und in jener Nacht geriet um 1.24 Uhr Reaktor 4 des Leninkraftwerks außer Kontrolle. Der Meiler explodierte, Feuer brach aus, radioaktiv verseuchter Staub stieg in die Atmosphäre auf.

Mehr als 24 Stunden ließ die sowjetische Führung nach dem GAU verstreichen, bevor Pripjat evakuiert wurde. Mehr als tausend Autobusse kamen aus Kiew, um die Anwohner in Sicherheit zu bringen. Erlaubt war nur Handgepäck für wenige Tage - Anordnung der Partei. 49.000 Menschen wohnten in Pripjat bis zu jenem Tag, an dem sich der schlimmste Störfall in der Geschichte der Atomkraft ereignete. Sie sollten nie zurückkehren.

Bis heute führt nur eine einzige Straße nach Pripjat - und die wird streng bewacht. Noch immer ist die Strahlung in unmittelbarer Nähe des Reaktors 200 Mal höher als der Grenzwert für Zivilisten. Die Siedlung ist seit mehr als 20 Jahren eine Geisterstadt. Die einstige Hauptstraße hat sich die Natur schon fast zurückerobert. Zwischen maroden Gehwegplatten wuchern Bäume und Sträucher. Der Kulturpalast "Energetik", einst Mittelpunkt des öffentlichen Lebens in Pripjat, ist bis heute verseucht - durch Cäsium, Strontium und Plutonium, das die Kernschmelze freisetzte. Das Gebäude ist, wie die meisten anderen in der Stadt, eine Ruine. Die frühere Schule - verfallen. Das Haus ist mit Moos bewachsen, auf dem Boden liegen Kinder-Gasmasken, Farbe blättert von den Wänden, dazwischen hängen Kinderfotos.

Auch Jahrzehnte nach dem Unglück, das alles veränderte, wagen sich nur wenige ins Sperrgebiet. Aleksander Naumow ist einer davon. "Jeder Fahrt in die Todeszone ist für mich wie eine Warnung", sagt Ex-Polizist Naumow SPIEGEL TV. "Die Menschheit soll sich an das erinnern, was hier passiert ist, und an die vielen, die nicht überlebt haben. All jene, die hier bereits gestorben sind oder die noch an den Spätfolgen sterben werden." Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO sind bis heute mehr als 50.000 Menschen an den Folgen der Reaktorschmelze gestorben. Nach Schätzungen russischer Forscher werden in den nächsten Jahrzehnten noch Hunderttausende Menschen an den Spätfolgen der Kernschmelze sterben.

Altlasten gibt es noch etliche in Tschernobyl. Zwölf Kilometer vom Reaktor entfernt liegt etwa die Dneprower Bucht, einst größte Hafen der Region. Eine ganze Flotte an Binnenschiffen wurde bei den Aufräumungsarbeiten nach dem Unglück eingesetzt. Das Metall ist stark radioaktiv verseucht. Doch wie der strahlende Schrott entsorgt werden kann, dafür gibt es keine Lösung. Und auch der Schutzmantel des Unglücksreaktors bereitet den Behörden Sorgen. Die Hülle ist marode, vor zwei Jahren wäre sie beinahe eingestürzt. "Obwohl ich hier schon seit Jahren arbeite, habe ich noch immer Angst, wenn ich mich dem Katastrophenort nähere", sagt selbst Oleksandr Nowikow. Er ist Sicherheitschef und Vizedirektor in Tschernobyl. "Wir wissen Bescheid, welche Gefahren Reaktor 4 noch in sich birgt. Und wenn man ehrlich ist, muss man zugeben: Die Gefahr ist auch nach 22 Jahren noch nicht vorüber."

Nun soll es eine neue Schutzhülle richten, so hat es die ukrainische Regierung hat vor wenigen Monaten beschlossen. Umgerechnet 500 Millionen Dollar wird die Stahlbetonhaube kosten, finanziert zum Großteil von der Europäischen Union. Hundert Jahre Sicherheit versprechen die Planer. Doch der Generaldirektor der Atomruine, Igor Gramotkin, ist skeptisch. "Selbst wenn die neue Abdeckung für den zerstörten vierten Reaktor gebaut wird, ist das Problem noch lange nicht gelöst", sagte er SPIEGEL TV. "Es kommen noch schwerere Zeiten auf uns zu." Der radioaktive Müll, der durch den bisherigen Sarkophag abgeschirmt wird, müsse geborgen und entsorgt werden.

Diejenigen, die heute auf dem Areal arbeiten, warnen nun eindringlich vor einem grundlegenden Missverständnis. "Wir haben Angst davor, dass die ganze Welt glaubt: Eine neue Abdeckung wird gebaut, und die Gefahr ist damit gebannt. Das ist eine Lüge", sagte Gramotkin. Die Wahrheit sei eine andere: "Der harte Kampf um die Sicherung des Reaktors wird bestimmt noch 30 bis 50 Jahre dauern."

Mitarbeit: Friederike Freiburg / Quelle: www.spiegel.de

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